02.02.2014

Meyre Falco von M.E. Strougthon


Walter, ein deutscher Intellektueller in Italien, bezeichnete sich bei Gelegenheit mit großer Geste als das einzig übriggebliebene Exemplar dieser sonst ausgestorbenen Spezies Mensch. Er hatte sein Haus in den Piemonteser Alpen für eine Woche an ein junges Paar aus Berlin vermietet und sich selbst in ein kleines Hotelzimmer in Albenga zurückgezogen. Zu Recht hoffte er dort an der ligurischen Küste auf lieblicheres Wetter, konnte er so doch der Kälte des sterbenden Winters entfliehen, ja, wahrlich touristischen Frühjahrssehnsüchten der 1950er Jahre nachträumen. Er war zur Abnahme des Hauses zurückgekommen und hatte das Paar getroffen. Der Mann ein junger Gehirnchirurg sagte wenig, aber er konnte sagen, was er wollte, erschien er doch immer wie abwesend. Die helle Frau dagegen war von so ausgesprochener Schönheit, wie sie sich Walter kaum vorstellen konnte. Sie war Französin und sprach ein klares, nur manchmal etwas hoch gedrehtes, verfremdetes Deutsch. Walter wusste genau, wenn sie nicht die Kamine mit Dauerbefeuerung hochgeheizt hatten, mussten sie sehr gefroren haben, denn die dicken Wände aus Granit und Kalkstein waren schwer warm zu bekommen. Er hatte sie davor gewarnt. Erstaunlich, als dieses Thema angeschnitten wurde, beschwerte sie sich nicht. Walter war sich sicher, jede Frau hätte sich beschwert, sie aber sagte, sehr zutraulich und als wollte sie ihren Mann zum Schweigen verdammen, „wir haben uns in der Welt Ihres Steinhauses sehr wohl gefühlt! Eine unglaubliche Atmosphäre, die wir nie vergessen werden. Ein visionäres Gesamtwerk, oder wie? Natur und Arbeit, zusammen, total gut! Wie kommen Sie da aber zurecht?“ Walter wartete kurz, ob der Mann wohl etwas sagen würde. Es kam aber nichts. „Sie sehen es ja“, sagte er dann kurz, „manchmal muss ich fliehen und mir eine ganz andere Behausung suchen, wie etwa jetzt an der ligurischen Küste.“ „Ach aber auch“, sagte sie mit einer bestimmten, neugierigen Bescheidenheit, „das ist ja fabelhaft interessant! Nur, ich meinte auch, was machen Sie den lieben langen Tag in diesem Haus, wenn Sie da sind?“ Sie blickte ihn überaus nachdrücklich an. „Ich meine l‘ennui, diese Langeweile?“ Walter lächelte etwas verunsichert und zog bedauernd die Schultern hoch, „Niemand, außer Ihnen, will das wissen!“ Nach einer kurzen Weile setzte er begütigend nach: „Stellen Sie sich vor, ich würde das gar aufschreiben, dass ich manchmal vor Langeweile oder Einsamkeit weinte? Furchtbar! Aber wir“, er blickte nun auch sie an, „wir sind eben solche Menschen, wir brauchen das“.
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Sie sagte, „Wir werden Ihr Haus, diese Maria oder Mayra Falco auf jeden Fall sehr positiv empfehlen. Natur ist doch wunderschön“, sagte sie, „durften sogar ein Reh und Raubvögel sehen. Unglaublich!“ Und dann fragte sie ihn, „Wie sind Sie auf Frassino gekommen, es ist schon sehr verlassen, und es kommen ja keine Touristen dahin? Und dieses grobe Natursteinhaus, in dieser abgelegenen Bergwildnis, wo normalerweise auch keine Touristen hinkommen?“ Da antwortete er, „ich musste aus persönlichen Gründen 1984 mein kleines Haus im Aosta-Tal verkaufen, durch einen FAZ-Bericht wurde ich 2000 an dieses alte Haus in den Bergen am Monte Rosa erinnert. Plötzlich musste ich wandern, über die  Höhen des Val Varaita hinüber zur Po-Quelle, dort begann ich unter dem Monviso wieder einmal zu suchen…
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Es ist eine lange Geschichte, wenn ich sie aufgeschrieben habe, werde ich Sie Ihnen zuschicken!“ „Danke, ich bitte darum. Warum aber schreiben Sie da überhaupt diese Geschichte?“ Sie gab nicht auf. Sie saßen zusammen in der Bar Spada Reale, der einzig geöffneten Bar in Frassino, ihr Mann musste allein zum Alimentari gegenüber, sie wollte partout nicht mit ihm gehen, sie sagte, sie käme nach. Sie insistierte, als ihr Mann weg war, Walter musste antworten: „Nein es ist nicht nur die Geschichte dieses Hauses“ fühlte er sich zu antworten bemüßigt, „es ist die Geschichte von mehreren Häusern über die Jahre hinweg. Sie kennen das ja, diese Nostalgie von deutschen Intellektuellen und Professoren, ein Haus in der Stadt, wo sie arbeiten, ein Haus im Dorf der Eltern oder im eigenen Geburtsort gar, ein Haus an der Promenade oder um mit Gästen zusammen zu sein, in einem modisch gewordenen Luftkurort oder so und dann noch ein ganz kleines, abseits im Waldhügel gelegenes Sommerhaus ganz aus Holz, das einsames Arbeiten mit einem Blick in die Natur ermöglicht und höchstens den Besuch im engsten Familien- und persönlichen Freundeskreis zulässt.“ Ungeduldig griff sie ein: „Sie weichen schon wieder aus, meine Frage bezog sich allein auf das Natursteinhaus in Frassino, es trifft ja auf keinen der von Ihnen umschriebenen Idealtypen zu!“ „Ja“, sagte er und wunderte sich im Stillen, wo eine Französin dieses Wort her haben konnte, „ich wollte ja nur darauf hinweisen, dass der eigenartige Hang von Professoren etwa nach Besitz von Häusern an verschiedenen Orten und in verschiedenen Lagen etwas mit ihrer intellektuellen Nostalgie zu tun haben muss, mit einem Innen, das am Schreibtisch hängen bleibt und das auf sonderbare Art nicht nur von geistiger Nahrung wie Bücher und Musik gespeist wird, sondern auch von diesem erfahrungsreichen, wandernden Blick nach draußen abhängig ist.“ 
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„Monsieur!“, sie wurde fast laut, „das Haus? Wie dahin? Von wem?“ Walter beeilte sich jetzt zu antworten, „Es ist nun einmal so, dass ich dahin gefahren bin, um nach einem kleinbäuerlichen Steinhaus zu suchen, ähnlich dem, wie ich es schon im Aosta-Tal hatte. Die Umstände - ich werde in meiner Geschichte ja noch darauf im Detail zurückkommen - wollten es aber anders, sodass ich hier hängen geblieben bin. Später habe ich Aufzeichnungen, Vertragsabschriften und Briefe - wüst eingerollt in vergilbtes Zeitungspapier - in einem am Dachstuhl hängenden großen Zinkeimer gefunden, alles nach 1806, da fing es an, Schriften aus Frassino, nach Turin, Savoyen, ja Paris,  und wenn man sich in den Inschriften der Bergkirchen umsieht, scheint alles hier nur von Napoleon erbaut zu sein und die Kinder sind früher schon immer in das aufstrebende Paris geschickt worden, zum Schornsteinfegen, oder gar verkauft worden an die reicheren Bauern im Bellino oben am Colle d’Agneau, zur Grenze nach Frankreich hin. Und ein verlassenes Dorf hier in der Nähe heißt doch wirklich Parigi/Paris. Da gab es literarische Reminiszenzen, Kriegserinnerungen von Söldnern, ausgebeuteten Exilanten - große Geschichte also. Und der Signore Geometra, ein selbstvergessener ehemaliger Sympathisant der „Lotta Continua“ und sein Bürgermeister, auch der links, von damals, alle sprechen sie Französisch,  alle meinten, ich würde zu diesem Preis niemals mehr ein solches Haus, einen solchen Besitz haben können. Nur mir ganz speziell würden sie zu dieser Gelegenheit verhelfen. Praktisch, man brauche ja nur ein, zwei Zimmer auszubauen, oder einen ‚fienile‘, einen Heuboden, und dann hätte ich schon eine Wohnstatt zum Arbeiten und immer noch dieses Grundstück nach Süden, völlig allein mit Wiesen und Wald und dem wunderbaren Berg gegenüber. War das nicht ein Blick? Ja, dann hatte ich dieses Ding, und musste über Jahre mehr Zeit und Energie in den Ausbau stecken, als einem unbeholfenen Professor anstand…“ Er konnte sie damit nicht beruhigen.
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„Nein“, sagte sie, „ich meine das sehr konkret, von wem haben sie das Anwesen gekauft?“ „Nun ja, von zwei Cousins, ihr gemeinsames Erbe, beide arbeiteten und lebten als Maurer in Paris. Auch das erinnerte mich wieder an diese Migranten-Schicksale aus den Alpen, wie sie bei Musil und Balzac beschrieben sind: Väter Maurer, Kinder Schornsteinfeger. Sie können sich nicht vorstellen, das Haus hatte 20 Jahre leer gestanden, aber das Stück eines abgeschnittenen Stierhorns habe ich über dem Türbalken des Eingangs zur Küche gefunden. Diesem  katholisch-heidnischen Zeichen werde ich in meiner Geschichte ein ganzes Kapitel widmen, und wie viel 10 000 Lire-Scheine im Mauerwerk versteckt waren, Heere von Grappa und Weinflaschen überall, alle leer, verstreut, auch da, wo man es sich nicht hätte erdenken können. Wie viel habe ich emotional und materiell in dieses Haus gesteckt!“
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„Ja“, sagte sie, „wollen Sie es nicht verkaufen?“ „Um Gottes Willen“, war die Antwort, „schon allein deshalb nicht, weil ich den blauen, gegen den weißen Schnee ausknospenden Enzian, die aus der Schneeschmelze halb steif und behäbig in die erste Sonne hervorkriechenden gelb-schwarzen Salamander, die sich aus den Dächern hervor kratzenden Siebenschläfer, die Bussarde und Falken und die Rehböcke nicht vermissen könnte, ganz zu schweigen von der Steinpilz-Polenta, dem Wildragout, dem Dolcetto oder, oder, …all das und auch die vielen Freunde will ich nicht aufgeben.“ Sie lachte und sagte schmunzelnd, „Sie werden verkaufen, da bin ich mir ganz sicher! Natürlich aber erst, wenn Sie ihre Geschichte fertig und mir zugesandt haben. Und übrigens, da bin ich auch ganz sicher, Sie haben noch gar keine Geschichte, Sie lassen sich nur von meiner Neugier anregen, obwohl Sie die bloße Angst davor haben, zu viel von sich preiszugeben!“ „Da ist etwas dran“, sagte er und schloss vorläufig mit der Idee ab, die geplante Geschichte über die deutschen Intellektuellen und ihre Häuser, über die Brüder Alfred und Max Weber, die Richthofen-Schwestern, und den Edgar Jaffé am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu schreiben. Da war eine Geschichte, hatte er gedacht, wie wäre es, zum Beispiel den Häusern dieser nostalgischen Besitzwesen die weit ausgreifende Seele, diese herumschwirrende, unruhige Sicht der wandernden, Nichts-besitzenden Libertinisten und Anarchisten Otto Gross und D.H. Lawrence gegenüber zu stellen. Darauf auch nur hinzuweisen, konnte er der Französin nicht zumuten, glaubte er, obwohl sie ein so wunderbares Deutsch sprach, dass sie es nicht von ihrem Mann gelernt haben konnte. Er selbst schüttelte jetzt nur innerlich den Kopf: Nein, was für eine verwegene Idee von einer Geschichte!
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Da kam ihr Mann zurück, er hatte den Proviant für die Reise eingekauft, sie erhoben sich und gingen ihm entgegen. Walter zahlte noch an der Theke und ging auf den ihm so fremd gebliebenen Mann zu, gratulierte ihm zu seiner großartigen Frau und war völlig erstaunt als ihm zur Antwort die Frage kam, „bleiben wir in Verbindung?“ „Ich hoffe es sehr“, antwortete Walter, „ich kann mich ja jeder Zeit wieder ans Meer davonstehlen“. „Oder auch hier bleiben!“ sagte die Frau, „warum nicht?“ Und jetzt lachten alle drei doch recht herzlich zusammen.  

          

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