Versuch einer
Replik auf die Anzeige von Gertrud Kolmars „Briefe“, (Göttingen, Wallstein
2014), … „wenn ich nicht eigentlich
träume, so wache ich auch wieder nicht“...von Wolfgang Schneider (FAZ 03.01.2015,
S.10)
Jüdische
Existenz unter dem Faschismus, Berlin 1938 bis 1943, sie endet in Auschwitz! Da
fällt zuerst ihr Bild in den Blick, es darf nicht unerwähnt bleiben, Gertrud
Kolmar, die ermordete jüdische Dichterin, gleicht im Antlitz einer Schwester
von Franz Kafka, dem Weltautor. Ihr einprägsames Bild greift weiter und trifft
uns heute im breiteren Kontext, der globalisierten Kulturwelt. Es tritt uns in
einer Schärfe des Blicks entgegen, der einen direkten Augenkontakt setzt und
spontan alles sonst auf dieser Seite in Schwarz-Weiß Gedrucktes vergessen
lässt. Es packt uns diese klare von innen her trotzende Sicht des
widerstehenden Blicks, der unser mentales, geistiges Bewusstsein überwältigt,
als gäbe es nur diese ausschließende, alles andere hinter sich verschwinden
lassende Augenverbindung. Man braucht nicht, auf Bedingungen des Beschädigten Lebens, die Adorno noch
prognostizierte, zurückzugreifen. Der Bezug auf das an der Gesellschaft
leidende Interieur könnte –
unangemessener Weise – von zu banaler, äußerlicher Art sein. Hier ist es Kraft
des Innern, die sich ausdrückt, eine besondere Kraft des geistig mentalen
Widerstands. „Das Höchste im Menschen“ wird, wie Goethe es forderte, als ein
„in edler Tat“ gestaltetes über alle Grenzen hinweg erkennbar.
Das ist ein
brisantes Thema. Es kann nicht mehr nur als ein weiterer Beitrag zur inneren
deutschen Exilliteratur abgehandelt werden, wenn es auch doch zu Recht zunächst
als eine deutsche Angelegenheit einschlägt!
Es ist
offensichtlich, das Buch ergänzt das breite Spektrum der Literatur über innere
jüdische Exilierung. Es ist, wie ich meine, jedoch nicht allein darauf
festzulegen. Das, was wir aus dem Tagebuch von Anne Frank kennen, das „normale“
Leben im Versteck, wird durch den brieflichen Bericht über den offenen,
gewöhnlichen Alltag bei zugleich völliger Privatheit ergänzt. Berlin, so als
wäre nichts! Ein stillschweigendes Arrangement mit den Sonderbehandlungen,
einschnürenden Regelungen, Unterdrückungsmaßnahmen, verästelt in kleinen und
breit wirkenden, großen Erniedrigungen und Verstümmlungen des Lebenszirkels
einer jungen Frau, einer Berliner Bürgerin, einer Lyrikerin. Es zeigt sich die
“Normalität“ der verordneten Zusammenlegung in einer der
arbeitslagerverwalteten „Judenwohnungen“! Es wird deutlich, dass diese jüdische
Existenz so ist, wie sie eingerichtet wurde, ein verlorenes Leben, und doch
springt ein seelisch fein gefügtes, und als solches gelebtes Leben heraus, in
Briefen erzählt. Und da fällt auf:
„Je länger
Gertrud Kolmar kein einziges Wort über Antisemitismus, Terror und Krieg
riskiert desto mehr erscheinen ihre Briefe von ungeheuerlichen Leerstellen und
Aussparungen gekennzeichnet“.
Wer es bei der Erweiterung der inneren Migrations-Saga nicht belassen
will, wird nach weiterführenden Inhalten suchen müssen. Da deutet sich zunächst
an, dass die Praxis der Lebensform unter Bedingungen der äußeren Verarmung und
Verneinung der Existenzberechtigung zu mentalen Minimalisierungen führt, die
ihre Spuren im Inneren des seelischen Lebens hinterlassen: Gertrud Kolmar
gewinnt darin auch ihre Kraft, „jede Ungunst von Zeit und Raum zu besiegen“.
Und dann noch, selbst die dunkle Fabrikhalle wird am Montagmorgen mit dem
Gefühl betreten, „Wieder zuhause!“ zu sein. Und so, in der Ahnung des
bevorstehenden Vernichtungstodes, schrieb sie zuvor schon: „So will ich auch
unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm, mag es schwarz und
lastend wie eine Wolke sein.“
Jeder Versuch
dieses Leid, als 'intellektuelles Leid' zu verallgemeinern, verbietet sich
angesichts dieser von Deutschen ermordeten „Rüstungsjüdin“, nicht nur, auch ist
jeder Vergleich unangemessen! Damit wäre das Kapitel der inneren literarischen
Exilierung abgeschlossen.
Mein weiteres
Fragen beginnt aber hier mit uns: Nehmen wir dieser sonderlichen brieflichen
Präsentation des Lebens und des Todes dieser Lyrikerin nicht den 'thrilling
effect', den Schrecken, wenn es bei der bloßen Historisierung bleibt und wir
ihr Schweigen nur in sich sehen und nicht weiter über es hinaus denken? Denn der
Text beschäftigt uns heute und fordert uns heraus, gerade weil er aus einem
besonderen lyrischen Ego im stillen, inneren -migrationsalltag spricht. Er
verfehlt eben darin seine Wirkung nicht, die er auch hat, dann auch haben
könnte, wenn wir ihn doch – unangemessener Weise – auf die subtilen
Existenzbedingungen der (intellektuellen) Existenz in der Gegenwart beziehen
würden.
Es sind da
diese subtilen Träume, die Ansammlungen luftiger Züge in die Ferne und
platonischer Liebe im gegenwärtigen Fabrikleben. Da haben wir den Orient: Das
alte Märchen von der Zauberseifenblase wird der Nichte erzählt. Wie in eine
Glaskugel hinein versetzt, möchte Kolmar über Städte, Flüsse und hohe Berge
hinweg fliegen, in die Schweiz, der dorthin emigrierten Nichte wegen, und doch
weiter noch über die Alpen und das Meer hinweg sich nach Palästina träumen.
Die Idee
eines farbig lebendigen Landes scheint ihr vorzuschweben, als wäre es nur
angefüllt von Lebensbäumen, aber nicht schon von Menschen bewohnt. In Praxis
ihrer Lebensgestaltung bemüht sie sich nicht um die Reise nach dort, wenn sie
sich dafür auch einem physisch-seelischen „Training“ unterzieht. Und da geht es
jetzt, in diesem Deutschland, wieder um den orientalischen Honiggehalt von
Dresdener Stollen, oder überhaupt um die exotischen Gewürze von jedem „braunen
Pfefferkuchen“. Das Spiel mit der klar sichtbaren Unerfüllbarkeit vom inneren
Frieden im Traum vom Südosten und
entsprechende Trockenübungen in
Richtung Orient sind wieder aktuell. Und man weiß nicht welche Sprengkraft es
in sich birgt. Zur Erinnerung, Gertrud Kolmar leistet Schwerstarbeit unter
Lagerbedingungen, und doch lebt sie mit diesem Paradox und will sich
gewissermaßen physisch-spirituell für Palästina „trainieren“? Nein, Geistern
wie Albert Einstein und Hannah Arendt wäre das nie in den Sinn gekommen! Oder
doch? Unter diesen Bedingungen?
Es ist aber
so, dass Gertrud Kolmar unter den gegebenen Bedingungen, – vielleicht nicht
nur, man kann es nicht wissen, darf man es fragen? – „kein einziges verstelltes
Wort“ riskiert, über
–
Antisemitismus!
– Terror!
– Krieg!
Unter alle
dem leidet sie, und sie schweigt darüber doch!
Wir sind an
Begriffs-Auflistungen gewöhnt, diese des Rezensenten trifft – so fällt uns
nicht eben nur unangemessener Weise ein – ein paar Leerstellen der
gegenwärtigen intellektuellen Existenz! Auf welche Aussparungen oder stille
Affirmation hin ist unsere, diese reflexive Lebensweise – nicht erst seit 9/11,
seitdem aber mit den ungeheuerlichsten Mitteln des Öffentlichkeit-Machens in
den, mit den Insider Jobs – trainiert
worden? Zu Recht! Sagen wir! Oder, doch eben mit den verheerendsten
psychologischen Mitteln! Also, Gertrud Kolmar, wenn wir das lesen, weist uns
auch auf – to connect! – die Bedingungen unserer eigenen Existenz hin. Damit
ist umzugehen! Es gibt keine „Zensurangst“, keinen „Zwangsapparat“, nur die
innere Modulation von alten „triebhaften“ Erfahrungs-, Erlebnis,
Ereignis-Teilnahmen: unsere irritierte Empfindsamkeit, die sich erweitert und
dann verschwindet: die fortlebende Existenz des Andern!
Vielleicht
kann man das Erscheinen der „Briefe“ von Gertrud Kolmar als ein Zeichen dafür
lesen, wie sehr wir uns in ideeller Not befinden, weil wir mit bewegenden
Fragen unserer Existenz in luftigen Bögen über Landschaften und ihre Geschichte
ziehen, und gegenwärtig uns praktisch nur auf verstelltem Terrain bewegen.
M.E. Stroughton