Ägypten, schon der Name gibt Raum für Gedanken über eine Art Ur-Mythos der
Menschheit,
Ägypten, die alte Hochkultur, die an so Großartiges erinnert, wie Entstehung von
Schrift und Baukunst,
Ägypten, ein Geschenk des Nils, der Fluss der Flüsse, der mit seinem Wasser
Millionen Menschen Leben bringt.
Ägypten und seine Millionen-Städte Alexandria und vor allem Kairo, eine Stadt, die
wir in brüllender Hitze, mit viel Lärm und gigantischem Verkehrsaufkommen
kennengelernt haben, ein Gewirr von Straßen, Gassen, Autobahnen, die über- unter-
nebeneinander geführt werden. Der Gedanke, man müsste hier selbst mit dem PKW
durch, erschreckt. Hektisch und scheinbar ziellos durcheilen die Menschen die
Stadt.
Wie leben diese Menschen?
Leben sie oder existieren sie nur?
Wer bestimmt hier? Wer zieht die Fäden?
Die Autorin Enaam zeichnet in ihren Erzählungen ein relativ illusions- und
hoffnungsloses Bild. Ihre Mitbürger: gehen zur Schule, besuchen die Universitäten,
machen ihre Abschlüsse und haben in der Regel trotz allem keine Chance auf ein
halbwegs selbstbestimmtes, würdiges Leben. Die Gesellschaft lässt es – von
Ausnahmen abgesehen – nicht zu, dass die Menschen ihre Träume verwirklichen.
Nur der, der ohnehin schon Mittel und Beziehungen hat, kann darauf hoffen, an die
kleinen und größeren gesellschaftlichen Futternäpfe zu kommen. Qualifikation,
Kompetenz und Engagement sind keine Kriterien dafür einen adäquaten Job zu
bekommen. Mit großer Mühe, Beharrlichkeit, Geduld und nicht zu letzt einer Portion
Glück schafft man es eine Tätigkeit zu bekommen, die einen existieren lässt, mehr
aber nicht zulässt. Es ist ein brutaler Lebens- und Existenzkampf, den die
Protagonisten von Enaam Ali durchzustehen haben. Unaufgeregt, ja fast schon
beiläufig beschreibt Enaam in ihren Erzählungen Leben und Leid einiger ihrer
ägyptischen Mitbürger. Sie haben eigentlich keine Chance und trotzdem versuchen
sie, dem Leben etwas Positives abzugewinnen und es gelingt ihnen auch.
Da ist Dunya, die Frau, die ihre Träume dem Nil anvertraut. Sie wird von den
gesellschaftlichen und religiösen Normen doppelt bestraft. Nach einem persönlichen
Schicksalsschlag wird ihr Ehemann zum Trinker, der sie misshandelt und schlägt.
Nach seinem Tod muss sie für ihren langjährigen Peiniger drei Jahre Trauer tragen
und darf sich nur schwarz kleiden. So hat ihr Mann selbst nach dem Tod noch Macht
über sie und behindert sie an einem Neuanfang.
Da ist das Schicksal des Herrn Fathy, der über alle Schläge hinweg mit gutem Geist
das Leben seiner Familie retten will und am Ende seinen an den Rollstuhl
gefesselten Sohn als Straßenverkäufer ernährt.
Es ist nur logisch und absolut zwangsläufig, dass diese Kette von Leid und schwer
zu ertragendem Unrecht in der ägyptischen Revolution um den Tahrir Platz mündet.
Und Träger und die wahren Helden dieses Schreies nach Gerechtigkeit, Brot und
menschlicher Würde ist wiederum der kleine Mann, der dem Grauen des Regimes
sich entgegenstellt, standhält und diesen Einsatz nur zu oft mit dem Leben bezahlt.
Enaam Ali Magdy schildert brillant die Geschehnisse rund um den Tahrir Platz und
lässt dabei Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Alter zu Worte kommen.
Die ungezählten Toten, deren Proteste und Angstschreie vom Regime
niedergeknüppelt werden, lassen Beklemmung, Trauer und Zorn beim Leser zurück.
Klar beschreibt Enaam die Eigendynamik der Revolution, deren Kraft sich die
Menschen nicht entziehen können.
Aber ebenso klar zeigt die Autorin auch auf, dass die Helden der Revolution
gleichzeitig auch immer deren Opfer sind. Starben sie umsonst? Enaam zeichnet in
ihren Erzählungen ein Bild Ägyptens und seiner Menschen, das den Leser einnimmt
und überzeugt, da sie den Blickwinkel der Menschen annimmt. Sie schreibt nicht
über die Menschen, sondern als jemand, der aus deren Mitte kommt.
Ismael (ist ein neues Mitglied in der Feed-back Kultur des Vantage Point World-
Verlags)